Streit über Ursache für Fehlstart von Vega-C (VV22)
Published on Fr, 10.03.2023 – 07:10 CET in Missions, covering ESAKommission macht ukrainisches Bauteil für Fehlstart verantwortlich
Staatliche Raumfahrtbehörde der Ukraine fordert weitere Untersuchungen
Avio arbeitet an Alternative, Arianespace plant um
Empfehlungen für Wiederherstellung von Vertrauen in Vega-C
Task Force für schnelle Rückkehr zu Flügen der Vega-C
Arianespace kann es nicht schnell genug gehen
Medienbriefing zum Verlust der Mission Vega-C Flug VV22 im Video
Der zweite Flug der Vega-C (VV22) war auch ihr erster kommerzieller – und endete nur Minuten nach dem Lift-off in einem Desaster. Denn wenige Augenblicke nach dem erfolgreichen Start am 20. Dezember 2022 um 22:47 Uhr Ortszeit von Kourou, Französisch-Guayana, wich die Zweitstufe von ihrer geplanten Flugbahn ab. Eine unabhängige Kommission begann umgehend mit der Suche nach den Ursachen für den Fehlstart. Nun stellte die ESA die Ergebnisse und Schlussfolgerungen vor – und verärgert damit die Ukraine.
Ziel der Mission VV22 war es, die beiden Erdbeobachtungssatelliten Pléiades Neo 5 und 6 von Airbus Defence and Space ins All zu bringen. Mit einer Auflösung von lediglich 30 cm (GSD) hätten sie ein neues Kapitel der Erdbeobachtung aufschlagen sollen. Doch beim Fehlstart der Vega-C (Vettore Europeo di Generazione Avanzata, „Europäische Trägerrakete fortgeschrittener Generation”) gingen sie verloren, der Ausbau der Konstellation verzögert sich. Dabei verlief zu Beginn der Mission noch alles nach Plan. In der Liveübertragung war zu sehen, dass die nur 17 Meter hohe Rakete wie geplant abhob. Doch 2 Minuten und 27 Sekunden später wich die Zweitstufe von ihrem Flugprofil ab. In einer Höhe von rund 110 km begann der oberste Teil der Rakete dann wieder zu sinken. Bei 47 km Höhe brach die Übertragung der Telemetriedaten ab – und Arianespace musste eingestehen, dass die Mission gescheitert und die Satelliten verloren sind.
Kommission macht ukrainisches Bauteil für Fehlstart verantwortlich
Arianespace und die ESA richteten umgehend einen unabhängigen Untersuchungsausschuss ein, um den Vorfall zu untersuchen. Erste Untersuchungen wurden direkt nach dem Start mit den verfügbaren Flugdaten durchgeführt. Sie bestätigten, dass die Untersysteme des Trägers wie geplant reagierten. Allerdings setzte nach der nominalen Zündung des Zefiro-40-Triebwerks 151 Sekunden nach dem Start ein allmählicher Druckverlust ein. Schließlich führte der Leistungsabfall der Schubdüse zum Scheitern der Mission. Laut Kommission war die Ursache dafür eine unerwartete “thermomechanische Erosion der aus kohlenstofffaserverstärktem Kohlenstoff (CFC) bestehenden Schubdüsenhalsauskleidung”. Diese beschaffte der italienische Hersteller der Rakete Avio beim ukrainischen Raketen- und Raumfahrzeugentwickler Yuzhnoye. Der Untersuchungskommission zufolge lag ein Fehler in der Homogenität des Materials vor. Da die Kriterien für eine Zulassung zum Nachweis der Flugtauglichkeit nicht ausreichen, soll dieses Material nun nicht mehr verwendet werden. Wie die Kommission mitteilt, weißt die Konstruktion des Zefiro 40 darüber hinaus keine Schwachstellen auf.
Staatliche Raumfahrtbehörde der Ukraine fordert weitere Untersuchungen
Wie die Staatliche Raumfahrtbehörde der Ukraine (State Space Agency of Ukraine, SSAU) auf ihrer Website mitteilt, habe sie die Ergebnisse der Untersuchungen erst aus den Massenmedien erfahren. Die Erklärung der Kommission werfe nicht nur einen Schatten auf den Ruf der ukrainischen Raumfahrtindustrie, sondern böte auch keine Grundlage für weitere Diskussionen. So sei die SSAU der Ansicht, dass die vorgelegten Schlussfolgerungen verfrüht sind und weitere Untersuchungen erforderlich sind. Denn, so die SSAU, es könnte weitere Faktoren geben, die zum Scheitern der Mission führten.
Ukrainische Erkenntnisse bleiben unberücksichtigt
Der Schluss der Kommission, dass ein fehlerhaftes Bauteil aus ukrainischer Produktion Hauptursache für den Fehlstart ist, klingt auf den ersten Blick plausibel. Schließlich herrscht in der Ukraine seit Februar 2022 Krieg, der auch Auswirkungen auf die internationale Raumfahrt hat. Die ukrainische Raumfahrtbehörde betont allerdings, auch unter diesen Bedingungen als zuverlässiger Partner der europäischen Raumfahrt aufzutreten. Man setze alles daran, Dienstleistungen und Produkte von hoher Qualität rechtzeitig an internationale Partner zu liefern. So waren zwar ukrainische Fachleute an den Untersuchungen zum Fehlstart der Vega-C beteiligt. Ihre eingebrachten Überlegungen und Vorschläge finden sich jedoch nicht in den Schlussfolgerungen der Unabhängigen Untersuchungskommission wieder.
Avio arbeitet an Alternative, Arianespace plant um
Laut Kommission haben die Probleme mit Zefiro 40 keine Auswirkungen auf Trägersysteme mit Motoren der Typen Zefiro 9 und Zefiro 23. Ungeachtet des Einwandes aus der Ukraine arbeitet Avio bereits an einer Alternativlösung für die Düse des Zefiro 40. So soll künftig ein von der ArianeGroup hergestelltes und bereits in den Düsen von Zefiro 23 und Zefiro 9 verwendetes CFC-Material eingesetzt werden. Und auch Arianespace macht umgehend Nägel mit Köpfen: Der Startplan wird angepasst und eine Mission auf eine der beiden verbliebenen Trägerraketen verlagert. Deren Start ist bereits vor Ende des Sommers 2023 geplant.
Zefiro 9 | Zefiro 23 | Zefiro 40 | |
---|---|---|---|
Länge des Motors | 3,9 m | 7,5 m | 7,6 m |
Durchmesser | 1,9 m | 1,9 m | 2,3 m |
Treibstoffmasse | 10,5 t | 24 t | 36,2 t |
Trockenmasse des Motors | 906 kg | 1.935 kg | 3.006 kg |
Masse des Motorgehäuses | 400 kg | 900 kg | 2.080 kg |
Schub ø | 314 kN | 1.122 kN | 1.304 kN |
spezifischer Impuls | 295,2 s | 287,5 s | 293,5 s |
Verbrennungszeit | 117,1 s | 77s | 92,9 s |
Empfehlungen für Wiederherstellung von Vertrauen in Vega-C
Mit dem Fehlstart ging naturgemäß ein Vertrauensverlust in die neue Kleinträgerrakete einher. Dieses ist jedoch notwendig, um potenzielle Kunden auch zum Buchen dieser Transportkapazitäten zu bringen. Um das Vertrauen wiederherzustellen, hat die unabhängige Untersuchungskommission eine Reihe von Empfehlungen formuliert. Die wichtigsten auf diesen Empfehlungen beruhenden Maßnahmen sind:
- Ergänzung der Ergebnisse des Untersuchungsausschusses durch zusätzliche Tests und Analysen, um die Zuverlässigkeit der Qualifikation des für das Zefiro‑40-Triebwerk ausgewählten alternativen CFC-Verbundwerkstoffs sicherzustellen;
- Durchführung einer zusätzlichen Qualifikationsphase für das Zefiro‑40-Triebwerk mit dem alternativen CFC-Verbundwerkstoff;
- Durchführung einer Reihe von weiteren Maßnahmen mit dem Ziel, eine langfristig zuverlässige und nachhaltige Trägerproduktion zu gewährleisten.
Task Force für schnelle Rückkehr zu Flügen der Vega-C
Die ESA und Arianespace haben derweil eine gemeinsam geleitete Task Force ins Leben gerufen. Diese hat bereits mit der Umsetzung des von der Kommission vorgeschlagenen Fahrplans begonnen und soll die Durchführung der Maßnahmen durch den Vega-Hauptauftragnehmer Avio genau verfolgen. Damit soll die zuverlässige und robuste Rückkehr der Vega-C zum Flug gewährleistet werden. Viel Zeit lassen will man sich dabei allerdings nicht. Denn schon für Ende 2023 wird ein neuer Start angestrebt.
Um dieses ambitionierte Ziel zu halten, wollen ESA, Arianespace und Avio ihre Anstrengungen bündeln. Denn nur, wenn möglichst schnell möglichst viele Kunden auf die Vega setzen, könnten auch die Entwicklungskosten wieder eingespielt werden. Wie Stefano Bianchi, Leiter der Abteilung Flugprogramme bei der ESA, im Juli 2022 erklärte, sind bisher 300 Millionen Euro in die Entwicklung der Vega geflossen. Ein genaues Auge auf die Arbeit bei Avio wird die Europäische Weltraumagentur haben. Wie Josef Aschbacher, Generaldirektor der ESA, sagte, “wird [die ESA] ihr Fachwissen in den Bereichen Technik und Projektmanagement in vollem Umfang einsetzen, um Avio bei der Umsetzung der Maßnahmen zu unterstützen, die zur Wiederherstellung des Vertrauens in das Trägersystem erforderlich sind.“
Arianespace kann es nicht schnell genug gehen
“Dank ihrer harten Arbeit haben die Mitglieder der Kommission die unmittelbare Ursache für den Verlust der Mission VV22 und die daraus gezogenen Lehren ermittelt und entsprechende Korrekturmaßnahmen vorgeschlagen“, wird Stéphane Israël, CEO von Arianespace, von der ESA zitiert. Diese Aussage sollte jedoch auch unter dem Schlaglicht seiner eher ablehnenden Haltung gegenüber Microlaunchern betrachtet werden. So äußerte er sich erst im Januar 2023 auf der European Space Conference (BBESpaceConf) negativ über den Ansatz von Kleinträgerraketen. Allerdings sind diese unter anderem für den Aufbau von Responsive Space-Fähigkeiten unverzichtbar.
Das scheint nun auch Israël erkannt zu haben und legt ein neues Tempo an den Tag. Denn zur Arbeit der Kommission sagte er: “Ihre Empfehlungen werden bereits von Avio unter der Aufsicht von Arianespace und der ESA umgesetzt, um eine erfolgreiche Rückkehr von Vega-C zum Flug zu ermöglichen und seine kontinuierliche Zuverlässigkeit zu gewährleisten.” Dass er es so eilig hat, könnte auch am wachsenden Konkurrenzdruck liegen. Denn während die Vega bisher einen zeitlichen Vorsprung gegenüber der deutschen Launcher von Isar Aerospace und Rocket Factory Augsburg hatte, ist dieser mit dem Fehlstart von VV22 passé. Ob dafür letztlich “nur” ein Bauteil aus ukrainischer Produktion verantwortlich ist, könnten weitere Untersuchungen zeigen. Spätestens beim nächsten Start wird sich jedoch zeigen, ob alle Probleme behoben sind.